Die Grundlagen des westlichen Tantras

Das Wort Tantra hat viele Bedeutungen. Eine davon ist heilige Schriften, Worte der Weisheit, die ursprünglich mündlich gelehrt und später niedergeschrieben wurden. Es sind eher Erfahrungslehren als Theorien oder Philosophien. Viele dieser Texte reichen bis zu 4000 Jahre zurück und es wird vermutet, dass die Weisheiten selbst noch aus vorvedischen Urzeiten stammen. Dieser Wissenskorpus gleicht auf eindrucksvolle Weise dem, was in der Tradition der eingeborenen Amerikaner als Feuermedizin gelehrt wurde. Und es gibt gute Gründe zu der Annahme, das es Überreste einer noch älteren Kultur sind, in der die Menschen noch in Übereinstimmung mit der Erde lebten. Das Weibliche wurde als göttlich verehrt und die Beziehung zwischen Mann und Frau basierte nicht auf Besitzdenken, sondern feierte das Mysterium des Lebens, das im Makrokosmos als Verbindung von Sonne und Erde, im Mikrokosmos als das Wunder der Wahrnehmung gesehen wurde, das sich im Tanz von Shiva und Shakti verkörpert, im Tanz von Bewusstsein und Lebensenergie, von Sperma und Eizelle, die sich begegnen, um neues Leben zu erschaffen.

Mit dem Aufkommen der großen Religionen wurde Tantra in den Untergrund verdrängt und wandelte sich zu einer esoterischen Geheimlehre, die noch heute an verschwiegenen Orten existiert, jedoch durch die öffentliche Meinung verzerrt und verschrien ist - als Sexorgien propagierend im Westen und als schwarze Magie in Indien.

Im Tantra werden zwei Hauptrichtungen unterschieden: rechtshändiges und linkshändiges Tantra. Beide betrachten die Erschaffung der Welt als Ergebnis eines ekstatischen Tanzes und der sexuellen Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips von Lebensenergie und Bewusstsein, die sich als Gott und Göttin manifestieren.

Der rechtshändige Weg arbeitet, in Verehrung dieser Prinzipien, mit sexueller Energie in Form von Visualisierung, Meditation und Vergeistigung. Der linkshändige Weg fordert seine Anhänger heraus, diese Energien zu verkörpern, Gott oder Göttin zu werden und Lebensenergie und Bewusstsein in sich selbst zu manifestieren, in ihren Gedanken und Handlungen, in ihrem Geist.

Der Tantrische Weg von John Hawken folgt dieser linkshändigen Tradition. Linkshändiges Tantra wird nicht nur von Profis, Priestern oder Mönchen praktiziert, die sich vom normalen Leben zurückgezogen haben, sondern von normalen Frauen und Männern, die mitten im Leben und in der Gesellschaft stehen. Partnerbeziehungen und besonders die sexuelle Beziehung zum Lebenspartner werden so zum bewussten spirituellen Weg der Selbstentfaltung.

Statt Begierden, Sexualität und Lust als Ablenkung vom spirituellen Weg zu unterdrücken, erforscht und transzendiert der Schüler sie vollkommen, lässt sie zum Tattva (Daseinsfaktor) werden, der Pforte durch die er sein Ego in der Hingabe an das aufgibt, was größer ist als das Selbst. Begierden, denen wir total und hemmungslos folgen, leiten uns über die Dualität von Anhaftung oder Nicht-Anhaftung, Schuld oder Unschuld, Sexualität oder Spiritualität hinaus in eine Welt kindlich-unschuldiger Glückseeligkeit.

In den 70er Jahren hat Osho, zuvor bekannt als Rajneesh oder Baghwan, einen Verschnitt aus Tantra und westlicher Psychotherapie geschaffen, der zum Tantra des Westens wurde. Diese Lehre wurde von Margot Anand als SkyDancing Tantra nach Europa gebracht, von Michael Plesse und Gabrielle St. Clair von Orgoville International nach Deutschland und in einer späteren Welle als Osho Neotantra durch Sarita nach Frankreich und England und durch Astika nach Spanien. Daniel Odier lehrt kaschmirisch-shivaistisches Tantra in Paris.

Margot Anand bildete in den Jahren 1991-92 Tantra-Lehrer aus und begründete damit SkyDancing Institute in den USA, Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden, Frankreich und auch in Großbritannien, das von John Hawken geleitet wird.

Einige konservative Tantra-Schüler und -Ausübende befürchten, dass das Üben von linkshändigem Tantra ohne lange Vorbereitung und wahre Initialisierung das Erbe des Tantra entweihen und Kursteilnehmer noch tiefer in ihr Ego verstricken könne. Und es gibt tatsächlich viele Tantra-Lehrer, die ihren Teilnehmern leichtverdauliches Tantra als eine Art New-Age-Unterhaltung und Gesellschaftsspiel servieren. Der Versuch, Sexualität und Spiritualität zusammen zu bringen, ist eine große Versuchung. Wenn aber ein ernsthafter Schüler einen erfahrenen und begeisternden Lehrer findet, kann er Momente der Transzendenz erleben, seine inneren Kräfte freisetzen und eine nachhaltige Persönlichkeitswandlung erfahren. Und der Weg, die Reise selber, ist voll von Erkenntnissen, Glücksmomenten und positiver Veränderung.